La Grande Magia

Manfred Trojahn
24.03.2012 | Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

MUSIKALISCHE LEITUNG: Lutz Rademacher
REGIE: Gabriele Rech
BÜHNE: Dieter Richter
KOSTÜME: Renée Listerdal
Pd.: Ulla Theissen
MARTA DI SPELTA: Alfia Kamalova
CALOGERO DI SPELTA: Daniel Magdal
OTTO MARVUGILIA: Urban Malmberg
AMELIA: Alexandra Lubchansky

Presse

Eine Dame verschwindet – Recklinghäuser Zeitung
Trojahns „La Grande Magia“ als faszinierend dichtes Spiel der Illusionen am MiR

Mancher Ehemann, der mit der Realität weiblichen Selbstbewusstseins nicht zu Rande kommt, mag sich das wünschen: die eigene Frau verstummt als perfekte Illusion stets um sich zu haben, hineingezaubert in eine Schatulle, die man tunlichst nicht öffnet, um den Zauber nicht zu brechen.

Calogero heißt dieser Mann, von dem man bis zum Schluss nicht weiß, ob er das gespenstische Spiel mitspielt oder unter Realitätsverlust leidet. Seine Frau Marta, die sich nicht ins triste Los der braven bürgerlichen Gattin schickt, entstammt als Sängerin der Bühnenwelt der Illusionen. In Manfred Trojahns Oper „La Grande Magia“ nach einer italienischen Gesellschaftskomödie von Eduardo de Filippo wollen alle hoch hinaus, vor allem die Frauen. Sirrende Flageolett-Töne stimmt die Neue Philharmonie an, und die famose Koloratursopranistin Alexandra Lubchansky schwingt sich als geisteskrankes Mädchen Amelia bis ins dreigestrichene D empor. Nicht minder bravourös behaupten sich in der hohen Lage Alfia Kamalova als Marta und Sylvia Koke als Schwägerin Rosa.

Um Familienbande dreht sich Trojahns Oper. Aber auch um Realität und Schein, um Weltflucht bis ins Irresein und die Konfrontation mit einer ernüchternden Realität, um Träume und bitteres Erwachen, um Wunschdenken und fehlgeleitete Wahrnehmung. Ein komplexes Werk also, durchtränkt vom Zauber der Poesie und der Magie einer Musik, die seelische Abgründe nicht ausspart. Das Musiktheater im Revier (MiR) tat gut daran, dieses zeitgenössische Werk vier Jahre nach der Uraufführung an der Dresdner Semperoper auf den Prüfstand zu stellen. Großer Beifall eines begeisterten Publikums belohnte das Wagnis. In Gabriele Rechs faszinierend dichter Inszenierung erweist sich die vierte Oper des traditionsbewussten Düsseldorfer Komponisten als Traumspiel mit Sogkraft. Ein Schuss Fellini im Auftritt dreier musizierender Komödianten, leibhaftiger Musiker der Neuen Philharmonie, und ein Schuss Hitchcock in gespenstischer Bühnentrance – das sind die Zutaten.

Bravourös verkörpert Urban Malmberg, der diese Partie schon in der Uraufführung sang, den Zauberer, der Marta für ein sieben Jahre währendes Techtelmechtel verschwinden lässt. Als sie zurückkehrt, ist sie Ehemann Calogero (Daniel Magdal), der vorgibt, sie nicht mehr zu erkennen, fremd geworden. Wenn die junge Amelia umnachtet stirbt und sich der Rest der Familie um die vornehme Witwe Matilde (Christa Platzer) a cappella im vorletzten Bild in irre manischem Wiederholungszwang ergeht, als ob die Zeit still stünde, tritt Zauberer Otto nicht mehr als Magier sondern als Psychiater auf. Kurieren kann er den Patienten Familie nicht. Dieter Richters variantenreiches morbides Bühnenbild, mal Hotelterrasse, mal Anstalt, verströmt wie Renée Listerdals Kostüme reichlich Italianità. Das zwölfköpfige Ensemble wächst beeindruckend über sich hinaus.

Ein Ereignis ist Trojahns oszillierende Musik, die Lutz Rademacher feinnervig einstudiert hat. In finessenreichen Farbmischungen hebt ein blendendes Gleißen und das Funkeln eines von Meisterhand geschliffenen musikalischen Diamanten an. Die entrückte Szene findet ihr Gegenstück dank der überragenden Neuen Philharmonie in einem vibrierenden Feingespinst zartester Klangraffinesse. Die Gelsenkirchener Produktion zählt zum Besten, was die Ruhrregion zu bieten hat.

Bernd Aulich für Recklinghäuser Zeitung

La Grande Magia – 28.03.2012 – Westdeutsche Allg. Zeitung (Kultur)
Eigentlich erstaunlich, dass es vier Jahre brauchte, bis sich ein Opernhaus bereitfand, Manfred Trojahns Oper „La Grande Magia“ (Der Große Zauber) nachzuspielen. Dabei ließ bereits die Uraufführung an der Dresdner Semperoper mit dem damaligen Duisburger GMD, Jonathan Darlington, keinen Zweifel an der Repertoiretauglichkeit des Werks. Mit großem Erfolg nahm sich jetzt das Musiktheater im Revier der Familien-Saga nach dem Schauspiel von Eduardo Filippo an.

Die Handlung ist einfach gestrickt, aber filigran verästelt: Die von Familienzwängen eingeschnürte Marta nimmt bei einem Familienurlaub in Italien die Gelegenheit wahr, nach einem verunglückten Zauberversuch des heruntergekommenen Magiers Marvuglia, bei dem sie sich unsichtbar machen soll, nicht wieder aufzutauchen und ihre eigenen Wege zu gehen. Der verlassene Gatte Calogero baut sich eine von Illusionen gespeiste Scheinwelt auf. Die Familie geht an dem „Großen Zauber“, der sich letztlich als „Fauler Zauber“ entpuppt, zugrunde. Die Regisseurin Gabriele Rech kommt in den Bühnenbildern von Dieter Richter dem mediterranen Ambiente des Stoffs nah. Vor einer dekadent angenagten Hotelkulisse wie aus einem Film von Fellini oder Visconti führt Gabriele Rech die anfangs streitbare, aber noch zusammengeschweißte Großfamilie mit leichthändiger Virtuosität durch die temporeiche Anfangsszene.

Jede Figur erhält ihr plastisches Profil. Im Verlauf des fortschreitenden Realitätsverlusts Calogeros drosselt Gabriele Rech adäquat zur Musik bis zum tragischen Finale das Spieltempo. Gabriele Rech ist eine ausgesprochen musikalisch inspirierte, hochkonzentrierte Inszenierung gelungen. Trojahns Tonsprache wird, zumindest auf der Bühne, immer transparenter, durchsichtiger, halt mediterraner. Trojahn arbeitet im „Großen Zauber“ mit einem überschaubaren Orchester, dem er schillernde Klänge von großer Magie entlockt. Dabei reduziert der Düsseldorfer Komponist im Verlauf der fünf Bilder das anfangs atemberaubend virtuose Tempo, aber auch die Dichte des Klangs mit eiserner Konsequenz. Den Sängern bietet sich so ein dankbares Tummelfeld. Und das nutzte das Gelsenkirchener Ensemble, trotz krankheitsbedingter Umbesetzungen, mit hörbarem Erfolg.

Trojahn verlangt den Sängern keine Akrobatik ab, sondern setzt auf geradezu kantable melodische Linien. Alfia Kamalova als Marta drückt ihre Sehnsucht nach dem Glück anrührend eindringlich aus. Ihr unglücklicher, sich zwischen Illusion und Realität verlierender Gatte Calogero findet in Daniel Magdal einen intensiven Darsteller. Mit kühlem Understatement und edlem Bariton vollzieht Urban Malmberg als berechnender Magier die gelangweilte Familie in seinen Bann. Hörenswert auch Sylvia Koke als kokette Rosa und Sejong Chan als Latin Lover Mariano. Fehlte es dem orchestral leichtfüßigen Parlando-Ton der Eingangsszene orchestral noch ein wenig an feinnerviger Transparenz, steigerten sich die Neue Philharmonie Westfalen und Lutz Rademacher im Verlauf des Abends zu einer vorzüglich geschlossenen Leistung, die ihre Wirkung beim begeisterten Premieren-Publikum nicht verfehlte.

Zwischen Illusion und Wirklichkeit – OMM
Gabriele Rech schafft es, Trojahns dramaturgisch wirklich packendes Musiktheater spannend umzusetzen. Auch Trojahns Musik hat ihre Meriten. Ob es aber wirklich, wie Lutz Rademacher sich im Einführungsvortrag wünscht, repertoire-tauglich wird, bleibt abzuwarten.

Dass sich knapp vier Jahre nach der Uraufführung an der Semperoper in Dresden das Musiktheater im Revier als zweites Opernhaus an eine weitere szenische Produktion von Manfred Trojahns La Grande Magia heranwagt, ist bei zeitgenössischer Musik doch eher selten zu beobachten. Während eine Uraufführung nämlich häufig von großer überregionaler Aufmerksamkeit und zur Verfügung gestellten staatlichen Mitteln motiviert ist, sind diese Aspekte bei einer Zweitproduktion eher nachrangig. Da muss ein Opernhaus doch darauf spekulieren, dass sein Publikum sich den bisweilen für die Ohren doch etwas unliebsameren Klängen nicht verschließt, und auf die Qualität der Musik vertrauen. Bei Manfred Trojahn, dessen Musik mit vertraut anmutenden Klangidiomen in Ansätzen durchaus an Benjamin Britten, Richard Strauss oder Igor Strawinsky erinnert, scheint das Musiktheater darauf zu bauen, dass das Publikum diese Klänge nicht als Fremdsprache empfindet. Und diese Einschätzung ging bei der Premiere im Großen und Ganzen auf, da, auch wenn das Haus nicht ganz ausverkauft schien, nach der Pause kein nennenswerter Zuschauerschwund zu beobachten war, was aber vielleicht, wenn man den Schlussapplaus als Gradmesser nimmt, eher der packenden Inszenierung von Gabriele Rech als der musikalischen Vorlage Trojahns zu verdanken ist.

Während die Handlung um Illusionen und Zauberei kreist, wählt das Regie-Team um Gabriele Rech in der Szene eine sehr realistische Darstellung. Dieter Richter hat eine pompöse Seeterrasse konstruiert, die aus einer Kulisse für einen Film von Federico Fellini stammen könnte, und setzt so die surreale Handlung in einen Kontrast zum realistisch anmutenden Bühnenbild. In diese recht blass gehaltene Umgebung bricht der Zauberer mit einem magischen Koffer und einem Vogelkäfig ein, wobei der goldene Vogelkäfig zum einen für den Traum Martas steht, der Tristesse zu entfliehen, zum anderen aber auch der kranken Amelia als Projektionsfläche für ihre Träume dient, wenn sie sich den kleinen Vogel im Käfig als möglichen Bräutigam vorstellt. Die Kostüme von Renée Listerdal sind ebenfalls recht realistisch gehalten, wobei bemerkenswert ist, dass Calogero und Marta in den sieben Jahren zum fünften Bild scheinbar gar nicht gealtert sind, während die anderen Familienmitglieder nicht nur in die Jahre gekommen sind, sondern auch sehr ärmlich wirken. Der Lack ist ab. So zeigt auch das letzte Bild einen verschlossenen hohen Raum, in dem die Figuren rastlos um ihre Illusionen kreisen. Da nützt es auch nichts, wenn Rosa die Fenster und Türen öffnet und der Blick auf einen romantisch anmutenden Sonnenuntergang in der Ferne freigegeben wird.

Die Rollen sind größtenteils mit Ensemble-Mitgliedern des Musiktheaters im Revier hochrangig besetzt. Als Gäste überzeugen Alexandra Lubchansky, die als Amelia mit hellem Sopran vor allem im vierten Bild bewegt, wenn sie zunächst im Fieberwahn den kleinen Vogel im goldenen Käfig als möglichen Bräutigam preist und am Ende des Bildes in den Armen Arturos stirbt, und Sylvia Koke, die als laszive Rosa verführerisch über die Bühne schwebt und die anspruchsvolle Rolle – wenn auch textlich recht unverständlich – mit einem kräftigen Sopran ausstattet. Urban Malmberg verfügt als Zauberer Otto über einen kernigen Bariton und liefert ebenfalls ein überzeugendes Rollenportrait ab, wobei er im letzten Bild eher an einen Arzt als einen Zauberer erinnert. Allerdings hat er zu diesem Zeitpunkt seine Macht der Magie auch bereits an Calogero verloren, der ihn genau wie die anderen Figuren beherrscht. Die Stars des Abends sind sicherlich Alfia Kamalova als Marta und der ab dieser Spielzeit neu engagierte Tenor Daniel Magdal als Calogero. Kamalova meistert mit glockenklarem Sopran die unglaublichen Notensprünge der Partie mit scheinbarer Leichtigkeit und macht damit Martas starken Drang nach Freiheit mehr als deutlich. Magdal verfügt über einen höhensicheren Tenor, der die Ausbrüche mit klar fokussierter Stimme ansetzt, ohne dabei zu forcieren.

Auch Christa Platzer als zickig keifende Matilde, Lars-Oliver Rühl als Möchtegern-Politiker Oreste, Piotr Prochera als an den Rollstuhl gefesselter Marcello, der in Erinnerungen an seine verstorbene Gattin schwelgt, E. Mark Murphy als verzweifelt in seine Kusine Rosa verliebter Gregorio und Noriko Ogawa-Yatake als Ehefrau des Zauberers Zaira, die von allen Figuren noch am bodenständigsten wirkt, zeichnen sich als überzeugende Sängerdarsteller aus und setzen Gabriele Rechs Regiekonzept glaubhaft um. Lutz Rademacher arbeitet mit der Neuen Philharmonie Westfalen Trojahns Tonsprache detailliert heraus und trägt somit ebenfalls zum großen Erfolg des Abends bei. So gibt es am Ende der Produktion einhelligen Beifall für alle Beteiligten, wobei das Regie-Team mit einem größeren Applaus bedacht wird als der Komponist, der für diese Produktion extra in Gelsenkirchen angereist ist. Ob wohl Wagner, Mozart oder Verdi heutzutage ähnliche Erfahrungen machen würden, wenn sie nach einer Vorstellung vor den Vorhang treten könnten?

Thomas Molke für OMM

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – opernnetz
Wie sieht die Oper des 21. Jahrhunderts aus? Im Zeitalter der Postmoderne, in der künstlerisch alles erlaubt scheint, in der die Freiheit, keinem Epochenzwang zu unterliegen, ständig Gefahr läuft, langweilige Beliebigkeit zu produzieren, da es nichts mehr gibt, keine Dogmen, an denen man sich reiben könnte, überrascht Manfred Trojahn mit einem Werk – die Uraufführung hat 2008 in Dresden stattgefunden – in dem die Zeit stehen geblieben scheint. Der Komponist spart nicht mit Dissonanzen, doch streut er hier und da musikalische Phrasen ein, die entfernt an Wiener Klassik, Romantik, Impressionismus erinnern, musikgeschichtlich ist das Werk kaum greifbar. Auch die Handlung ist zeitlos und hat die Zeit – oder besser gesagt, den Umgang mit ihr – zum Thema. Basierend auf Eduardo de Filippos gleichnamigem Schauspiel zeichnet La Grande Magia das Bild einer Familie, die es nicht mehr nötig hat, die sich nur mit Mühe hinter ihrer bürgerlichen Fassade versteckt. Die di Speltas stehen vom ersten Moment mit heruntergelassenen Hosen auf der Bühne. Im Mittelpunkt der Spannungen stehen Calogero und seine Frau Marta. Sie erträgt die Zwänge des bürgerlichen Alltags nicht mehr, er lebt die Fassade, als sei es das richtige Leben. Der Auftritt des abgehalfterten Zauberkünstlers Otto Marvuglia, eine Figur, die wie ein aus den Edgar-Allan-Poe-Verfilmungen der späten 1960-er Jahre gefallener Vincent Price wirkt, hilft Marta beim Ausbruch aus der Bürgerlichkeit und vollendet die Katastrophe der in ihren Konventionen gefangenen Familie: Calogero, der nicht wahrhaben will, dass Marta während eines Zaubertricks ausgebüchst ist, verfällt dem Wahnsinn und glaubt, die Zeit sei stehen geblieben. Als Marta, nach mehreren Liebhabern und Selbstverwirklichung als Sängerin, nach quälend langen sieben Jahren zurückkehrt, hält Calogero an seinem Selbstbetrug fest. Er erträgt es nicht, sieben Jahre seines Lebens vergeudet zu haben – und die Familie mit ihm.

Gabriele Rech, die gut drei Jahre nach Die Herzogin von Chicago nach Gelsenkirchen zurückgekehrt ist, inszeniert La Grande Magia als psychologisches Kammerspiel. Was fangen wir mit unserer Zeit, mit unserem Leben an? Die Familie di Spelta verschwendet es an eine Existenz der Uneigentlichkeit. Die literarische Vorlage zu Manfred Trojahns Oper ist 1949 uraufgeführt worden, sechs Jahre, nachdem Jean-Paul Sartres philosophisches Hauptwerk Das Sein und das Nichtserschienen war und die Rezeption von Martin Heideggers Existenzphilosophie dadurch neue Impulse erfahren hatte. Der zweite Weltkrieg, Hitler und Mussolini liefern den historischen Kontext. Das Versagen der politischen und wirtschaftlichen Eliten Europas war offensichtlich geworden. Das macht La Grande Magia – angesichts des Versagens der Oberschicht vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise – hochaktuell. Die Bürgerlichen verharren in stereotypen Rollen, die sie so spielen, wie Sartre es in seiner existenzialistischen Analyse offengelegt hat. So wird der Beginn des fünften Bildes zum eigentlichen Höhepunkt der Inszenierung. Die Familie wiederholt dieselben, längst durchgespielten Rituale. Das Resultat ist der Verfall der bürgerlichen Klasse. Dies spiegelt auch das von Dieter Richter geschaffene Bühnenbild wieder, eine Fassade gewordene heile Welt des Wohlstands, durch den im Schlussbild der Rost durchschimmert. Die dezenten Kostüme von Renée Listerdahl fügen sich ebenfalls gut ein.

Das Ensemble zeigt sich durchweg in guter Form. Alfia Kamalova, die vor gut drei Jahren als Belinda in Dido und Aeneas ein erstes Ausrufezeichen in Gelsenkirchen gesetzt und sich seitdem bemerkenswert weiterentwickelt hat, scheint die Rolle der Marta wie auf den Leib geschrieben. Die Sopranistin meistert hohe Intervallsprünge problemlos und hält im Piano stets die Spannung. Darstellerisch wie gewohnt überzeugend, liefert die aus Estland stammende Sängerin eine ihrer besten Leistungen ab. Erst verdrießlich, eifersüchtig und spießig, dann in seiner eigenen, von Wahnvorstellungen gezeichneten Welt gefangen, verleiht Daniel Magdal Martas Ehemann Calogero durch überzeugendes Spiel die notwendige Glaubwürdigkeit. Im fünften Bild darf Magdal auch musikalisch die Bremse los- und seinen wunderbaren Belcanto-Tenor über die Bühne schweben lassen. Urban Malmberg, der diese Rolle bereits bei der Uraufführung 2008 verkörperte, gibt einen herrlich zwielichtigen Otto Marvuglia mit einem stets präsenten Bariton und sauberer Stimmführung. Auch die kleineren Partien sind gut besetzt. Alexandra Lubchansky stattet die kränkelnde Amelia mit einem kräftigen Sopran aus, der in den Höhen der Rolle entsprechend manchmal schrill wirkt, insgesamt von sauberer Stimmführung ist. Christa Platzer zeichnet Matilda di Spelta als verbitterte Patriarchin; auch der Rest der Familie spiegelt das Versagen des Bürgertums wunderbar wider: Piotr Prochera als Matildas renitenter Schwager Marcello, E. Mark Murphy als durch seine unmögliche Leidenschaft für seine Cousine Rosa alles um ihn herum vergessenden Gregorio, Sylvia Koke als nur um ihre Schönheit bedachte Rosa und Lars-Oliver Rühl als deren Ehemann Oreste, der seiner verpassten Chance als Politiker nachtrauert. Sejong Chang gibt den Mariano in seiner ganzen Großspurigkeit. Noriko Ogawa-Yatake als Zaira und William Saetre als Arturo ergänzen das Ensemble mit gekonnter Routine.

Die Neue Philharmonie Westfalen spielt Manfred Trojahns Partitur, aus der, so scheint es, mal Anklänge an Strawinsky, mal an Richard Strauss herauszuhören sind, unter der Leitung von Lutz Rademacher facettenreich und mit gebotener Subtilität. Immerhin gilt es, das Kammerspiel auf der Bühne musikalisch zu kommentieren. Und das gelingt dem Orchester durchweg auf hohem Niveau. Dass einige Zuschauer dem weiteren Verlauf der Handlung nicht folgen wollen und ihre Plätze nach der Pause leer bleiben, überrascht, gilt doch das Gelsenkirchener Publikum gemeinhin als für unbekannte Klänge aufgeschlossen. Diejenigen, die bleiben, belohnen die gelungene Vorstellung mit viel Applaus.

Sascha Ruczinski

Wirklichkeit – Illusion?
Eine kleine hölzerne Kiste ist der Auslöser für Manfred Trojahns Oper La Grande Magia. Eine Kiste, in der Marta steckt – von Otto, einem längst abgehalfterten Zauberer dort hineingezaubert. Fünf, zehn, fünfzehn Minuten will und soll sie verschwinden, für ein heimliches Rendezvous mit Mariano, dem attraktiven Papparazzo. Doch es werden am Ende sieben Jahre gewesen sein, dass Marta abwesend ist.

Immerhin: sieben Jahre, in denen Marta ihren eigenen Lebensentwurf, den einer Sängerin verwirklichen kann: ein erfülltes Leben. Während der Rest der Sippe – Vater, Mutter, Onkel und so weiter… – eine Geschichte durchlebt, die merkwürdig changiert zwischen Komödie und Gruselstory. Grundtendenz: jede der Figuren flüchtet aus ihrer eigenen Realität, an erster Stelle Calogero, Martas Mann, der hinfort mit dieser Kiste sein „Idealbild“ einer Ehefrau neurotisch mit sich herumträgt. Traum statt Wirklichkeit. Die Zeit steht still, es ist keine Entwicklung mehr. Und deshalb, so Calogeros Überzeugung, brauche niemand mehr zu essen, könne auch niemand mehr sterben. „Der Zauber war doch nur ausgedacht für ein Abenteuer! Und das Abenteuer wurde mein Leben“ singt Marta, als sie ganz zum Schluss zurückkehrt zur kleinen hölzernen Kiste und ihrem Besitzer. Aber für diese Wahrheit hat Calogero keine Ohren mehr.

Man muss sich als Zuschauer und Zuhörer schon gut konzentrieren, um den Stoff, den Manfred Trojahn aus dem Schauspiel La Grande Magia von Eduardo de Filippo kondensiert hat, in all seinen Einzelheiten mitzubekommen. Vermutlich gelingt das auch gar nicht beim ersten Hören und Sehen. Gabriele Rechs Inszenierung liefert aber einen Weg zum tieferen Verständnis dank plastischer Bilder und einer Personenführung, die Gefühle und Beziehungen der Figuren untereinander ganz augenfällig werden lässt: hoffnungsvoll das dritte Bild, die kurze Liebesszene zwischen Marta und Mariano, anrührend das Sterben der von Krankheit gezeichneten Amelia im vierten Bild. Rech agiert mit großer Klarheit, Ruhe und Übersicht, verzichtet auf jede übertriebene Aktion. Das gibt dem Ensemble Raum und Gelegenheit, jeweils die ganz eigene Realitätsauffassung aus der Stimme heraus zu entwickeln.

Dieter Richters Bühne verströmt ebenso wie Renée Listerdals Kostüme das Gutbürgerliche, ja Mondäne eines Sanatoriums, in dem Sein und Schein durcheinander geraten – dies ein deutlich philosophischer Aspekt dieser Oper, die 2008 in Dresden ihre Uraufführung erlebte. Dass sie hier nun mit überschwänglichem Beifall aufgenommen wurde, liegt ganz zweifellos an der ausgezeichneten musikalischen Umsetzung. Dirigent Lutz Rademacher fächert die Partitur mit all ihren filigranen Strukturen und Farben leuchtend auf. Die Neue Philharmonie Westfalen in überschaubar großer Besetzung (vergleichbar der in Richard Strauss‘ Ariadne) ist hellwach und absolut präsent.

Ganz entscheidend aber ist die Qualität der zwölf Solisten, vor allem die der Damen. Alfia Kamalova spielt nicht, sie ist die Sängerin Marta, der Manfred Trojahn einiges an virtuoser Stimmkunst abverlangt. Sylvia Koke gibt überzeugend ihre Schwägerin Rosa, die vergeblich auf sinnliche Abwechslung hofft. Alexandra Lubchansky berührt zutiefst als sterbende Amelia mit ihrem reinen, geradezu „unschuldigen“ Sopran. William Saetre ist der verängstigte Assitent, Noriko Ogawa-Yatake, Urgestein im Gelsenkirchener Ensemble, die selbstbewusste Frau des Zauberers Otto. Den singt ganz großartig Urban Malmberg, der schon bei der Dresdener Uraufführung mit dabei war. Calogero ist Daniel Magdal, der mit seinem großen Tenor herrisch seine „Wahrheit“ von Zeit und Raum behauptet.

Dafür, dass kein Charakter der Familie di Spelta in der Darstellung zu kurz kommt sorgen Christa Platzer als scheinheilige Matilde und Pjotr Prochera als deren Schwager Marcello mit seinem edlen Bariton. Auffahrend als Möchtegern-Politiker: Lars-Oliver Rühl; grell als armer Verwandter: E. Mark Murphy. Aufhorchen lässt Sejong Chang, Mitglied des „Jungen Ensembles“ am Musiktheater im Revier. Mit klarer Diktion und rundem, noblem Bass überzeugt er sängerisch, aber auch darstellerisch als Papparazzo Mariano.

Insgesamt eine großartige Leistung aller Akteure, die sich nicht nur individuell profilieren konnten, sondern vor allem im Zusammenspiel einen in jeder Hinsicht bemerkenswerten Opernabend gestalten.

von Christoph Schulte im Walde

La Grande Magia – Deianira.de
Ehezwistigkeiten im Haus Di Spelta. Ehemann Calogera hat es nicht leicht mit Marta, seiner frustrierten Frau. Was tun? Therapie, Trennung oder Scheidung? Nichts von alledem. In Manfred Trojahns Oper „La Grande Magia“. hat der Autor eine viel bessere Idee. Die unzufriedene Ehefrau wird kurzerhand weggezaubert.

La Grande Magia ist Trojahns vierte Oper. Das zeitgenössische Musikstück wurde 2008 in der Semperoper in Dresden uraufgeführt. Das gleichnamige Schauspiel von Eduardo de Filippo stand Pate für das Werk. Das Musiktheater im Revier wagte es jetzt als zweites Haus die Oper erneut auf die Bühne zu bringen. Sie wird in fünf Bildern aufgeführt.

Schauplatz ist die Terrasse eines Hotels in einem italienischen Badeort. Dort haben sich Mitglieder der Großfamilie Di Spelta versammelt. Unübersehbar sind die Differenzen in der Familie. Marta möchte der Enge der bürgerlichen Welt entfliehen und träumt von einer Karriere als Sängerin. Der junge Mariano erscheint auf der Bildfläche und bedrängt den Zauberkünstler Otto Marvuglia, ihm zu einem Rendezvous mit Marta zu verhelfen. Marta wird weggezaubert und Mariano brennt mit ihr durch. Sie kehrt nicht zurück und der Zauberkünstler gerät in arge Bedrängnis. Um den wütenden Ehemann zu beschwichtigen, zeigt Otto ihm ein japanisches Kästchen. Calogero soll es nur öffnen, wenn er sich der Liebe und Treue Martas sicher ist. Die Schachtel bleibt verschlossen. Die Zeit ist stehen geblieben. Calogero verharrt weiter in der Spielsituation und hat sich für die Illusion einer idealen Frau entschieden.

Die komplexe Handlung der Oper gibt bis zum Schluss Rätsel auf. Ist alles nur ein Spiel, eine Illusion der Calogero unterlegen ist oder ist er dem Wahn verfallen und verrückt geworden. Das Psychogramm der Protagonisten, in der sich die Zerbrechlichkeit des Lebens und der Beziehungen manifestiert, wird szenisch entwickelt (Marta geht weg und lebt ihren Traum, Calogero verfällt der Zauberei und Magie, Amelia stirbt). Strich für Strich zeichnet die Regie die Risse hinter der schönen Fassade nach. Der Verfall der Familie, am Ende unübersehbar, vollzieht sich auf mehreren Ebenen. Wirtschaftlicher Ruin bedroht sie, auf der psychischen Ebene sind Neurotische Verhaltensweisen erkennbar (zwanghafte Wiederholungen im Bild der ständig an -und ausmachenden Kerzen), Calogera konstruiert sich eine eigene Welt.

Renée Lister steckt die gut situierte Familie Di Spelta in passende Kleidung und Dieter Richter entwirft ein abwechslungsreiches Bühnenbild: Die vornehme Hotelfassade mit italienischem Flair wird am Schluss zur morbiden Fassade eines Sanatoriums.

In der packenden Inszenierung von Gabriele Rech sind die Figuren von Anfang an durch eine eigene Musiksprache gekennzeichnet. Trojahn ordnet jedem Charakter eine Melodie und ein Instrument zu, um die Charaktere wiederzuerkennen und das Motiv ihrer Handlungen zu verdeutlichen. Der aufmerksame Zuschauer fühlt sich bisweilen an Rossini, Strawinsky oder Richard Strauss erinnert. Trojahn greift auf Traditionen zurück und kreiert eine eigene Tonsprache. Die Inszenierung ist mit einem großartigen Sängerensemble besetzt, Bass- und Alt Stimmen fehlen. Emotionalität wird durch die hohen Stimmlagen ausgedrückt. So ist Alfia Kamalovas (Marta) schmerzliche Sehnsucht nach Freiheit in jeder Phase spürbar nachzuempfinden. Mit ihrem silber-hellem Sopran meistert sie scheinbar mühelos die Notensprünge. Und Urban Malmberg, der schon in der Uraufführung in Dresden die Rolle des Zauberers verkörperte, fasziniert mit seinem geschmeidigen Bariton. Daniel Magdal beeindruckt mit höhem sicherem Belcanto Tenor. Auch die übrigen Rollen sind hochrangig besetzt.

Die Neue Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Lutz Rademacher beeindruckt mit großem Facettenreichtum. Präzise arbeiten sie die unterschiedlichen Klangfarben der Partitur heraus

Große Begeisterung für das gesamte Ensemble mit lang anhaltendem Beifall.

Nina Klawitter